Wer Tiefe sucht, muss in Abgründe blicken. Im achten Buch der
?Madrigali? legt Claudio Monteverdi die Grundzüge seiner musikalischen
Poetik dar, mit denen er Gefühle wie Wut, Entsetzen, kriegerische
Ungeduld und die Liebe ausdrücken wollte: ?Mir sind grundverschiedene
Affekte begegnet, die es zu vertonen gilt: der Krieg, das Gebet und
sogar der Tod?. Dieses Zitat nennt die Säulen und Kreuze unseres Lebens
und verschiedene Abstufungen der Gewalt, wenn man der Tod als
gewaltiger Akt gegen den Lebensfluss betrachtet. Es ist diese flirrende
Grenze mit ihren Öffnungen, die Monteverdi sichtbar macht. Wir können
uns nicht sattsehen an den Barockopern, an den himbeerroten und
zitronengelben Bühnenbildern, den mondän hochtoupierten Frisuren und
der vielen grellen Schminken, Inszenierungen, in denen sich die
Herrscherfiguren regelmäßig in lächerlich verzappelte, kleine
Machtkasper verwandeln und sexgierige Vamp-Frauen zur Liebesarie ihre
Edeldessous zeigen. Alte Muster leben fort. In der
Geschlechterbeziehung treffen sich die Parallelen erst im Unendlichen.
Andachtsbilder ihrer eigenen Schönheit und Vergänglichkeit. Wo eine
Bosheit, da ein Wille, wo ein Wille, da ein Mensch. Dass Verbrechen die
Öffentlichkeit aufwühlen, ist eine uralte Geschichte ? und doch ist sie
fast täglich neu. Die Irritationen der Bürger sind umso heftiger, je
länger eine Mordserie nicht aufgeklärt wird. Wie im Berlin der 1920?er
Jahre, in denen nicht nur politische Tötungsdelikte zur
Destabilisierung der Weimarer Republik beitrugen, sondern auch "Hamann
mit dem Hackebeilchen" Schabefleisch aus seinen Opfern machte. Nicht
Jagdglück hat den Menschen geprägt, sondern Angst vor der Bestie. Nicht
nur die Urmenschen haben gejagt, auch Raubtiere haben Jagd auf Menschen
gemacht. Hyänen, Krokodile oder Raubvögel haben unsere Altvordern
verschleppt, oder zumindest Einzelteile von ihnen. Eine Beute kann sich
der Mensch mehrfach im Leben entgehen lassen, selbst Beute sein dagegen
nur einmal. Dieses Gefühl bestimmt die Menschen bis zum heutigen Tag.
Wer ?in ein offenes Fenster schaut?, schreibt Baudelaire, ?sieht nie so
viele Dinge wie einer, der auf ein geschlossenes Fenster blickt?. Akute
Gefahr und topografische Desorientierung sind äußere Zeichen für die
innere Ziellosigkeit. Verhandelt wird hier auch das Problem sich
vernutzender medialer Bilder. Mit Blick auf Gott als bilderzeugendes
Subjekt hat sich die Rede vom ?Menschenbild? als ethisch sinnlos. Jeder
Einzelne ist sehr viel mehr und anderes, als er von sich selbst
wahrzunehmen vermag. Kaum jemand geht in den Bildern auf, die andere
sich von ihm gemacht haben. Der Bilderkrieg hat eine gänzlich andere
Bedeutung bekommen, er bezeichnet die gegenwärtige Politik der Bilder
oder Politik mit Bildern, die in den globalen Medien als Waffen
eingesetzt werden und als solche mehr Breitenwirkung erreichen als
langatmige Texte, die auch der sprachlichen Übersetzung bedürfen. ?Wir
sehen nicht, was wir sehen. Wir sehen, was wir sind?, ist im »Buch der
Unruhe« bei Pessoa zu lesen. Die Wirklichkeit wird zur Attrappe. Der
alte Wunsch, in dieser Welt zu leben und keineswegs zur Heimatlosigkeit
verurteilte Gespenster oder Fremde auf der Erde zu sein, dies
grundlegende Daseinsgefühl, das mit dem Authentischen verknüpft ist,
verschwimmt. Die popmodernen Menschen haben immer Leidenschaft gesucht
und sind letztlich auf einer lauwarmen Zufriedenheitsstufe gelandet.
Sie wissen, wie es ist, ein leeres, unbeteiligtes Leben zu führen, wie
man gerade dadurch Schuld auf sich lädt. Sie haben ihre Berufe und doch
wirkt sein Aktenstudium ebenso kindlich gespielt wie ihre
Bilderbuchillustrationen. Sie haben ein angenehmes Äußeres und sie
scheinen dennoch auswechselbar. Sie blicken zurück auf Spuren einer
Vergangenheit und wirken dabei trotzdem seltsam distanziert und
unbeteiligt. Alle beide bleiben in ihren Lounges leer und hohl wie
Pappfiguren, farbenfroh koloriert und hübsch anzusehen vielleicht, aber
ohne Tiefe. Schuldig werden an sich selbst und an anderen, das kann man
nämlich auch, indem man gar nichts tut. Dadurch, dass niemand diese
Schuld je beim Namen nennt, vollzieht sich bei ihnen die
Sprachlosigkeit und weist damit viel deutlicher auf diese Schuld durch
Unterlassen hin, als man es mit Worten je könnte. Sie gehören zu einer
Welt, wo die Politik nicht in Staatstätigkeit aufgeht; ihre Welt ist
eine politische Kultur des Widerspruchs, in der die kommunikativen
Freiheiten der Bürger entfesselt und mobilisiert werden können. Sie
pflegen ihre Hysterie über die Vogelgrippe und ihre Vorlieben für
Katastrophenfilme über Sturmfluten oder die dunkelsten Abgründe der
deutschen Geschichte. Ist Furcht ein evolutionärer Anachronismus?
Der Traum von einer erfüllenden Partnerschaft
besteht unverändert fort, aber die popmodernen Menschen gehen nicht
mehr davon aus, dass ihnen die große Liebe in den Schoß fällt. Liebe
kann man lernen, so lautet das neue Versprechen; Glück lässt sich
planen, optimieren und bewirtschaften wie einen Hedge-Fonds. Die
Wissenschaft steht mit knusperfrischen Erkenntnissen aus Neurobiologie,
Evolutionspsychologie und Hormonforschung zur Seite. Im Internet laden
Singlebörsen dazu ein, das eigene Profil mit jenem künftiger Bewerber
abzugleichen. Betreutes Flirten für Greenhorns in der emotionalen
Prärie. Dass Paare Klassen überspringen, wird immer unwahrscheinlicher,
weil sich die Partner bereits in vorselektierten Kreisen bewegen.
Ausgerechnet die selbstbestimmten Internet-Nutzer überlassen eine so
wichtige Lebens-Vorentscheidung fremden Dienstleistern:
Partnerschaftsvermittler, Dating?Kurse, Single?Kontaktbörsen,
Heiratsanzeigen. Die emotionale Unsicherheit zwischen Männern und
Frauen wächst im Zeitalter der totalen Kommunikation, das Geschäft mit
der Liebe boomt. ?Die Ehe ist der Versuch, zu zweit mit den Problemen
fertig zu werden, die man allein niemals gehabt hätte.?, sagt der
Regisseur Woody Allen. Sein Kollege Alfred Hitchcock sieht in der
Heirat: ?? die einzige lebenslängliche Verurteilung, bei der man
aufgrund schlechter Führung begnadigt werden kann?. Derlei
melancholisch?bißige Betrachtungen teilen die meisten Menschen, was sie
jedoch keineswegs davon abhält, es immer wieder aufs Neue zu
überprüfen? auch wenn es im Zeitalter des Lebensabschnittsgefährten
nicht mehr für ewig ist. Der Mensch bleibt nun einmal nicht gern
allein. Einsamkeitsgefühle dürften denn unter den rund 18 Millionen
Alleinstehenden im deutschsprachigen Raum weit verbreitet sein. Nur wo
und wie soll man den Partner fürs Leben finden?
Der komplette Essay erscheint in: Matrix #4, Pop Verlag / Stuttgarterstr.98 / D- 71638 Ludwigsburg /
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