Zwischen Den Atemzügen
(Dennis Rohling)
Wirkliche Entdeckungen sind selten geworden. Meist weiß man auch gar nicht, wonach man eigentlich konkret suchen müsste, trotz diverser Suchfunktionen im Netz und vor sich hinbrabbelnder Foren. Zum Pathos des Neuen gehört, dass es nicht planbar ist, es ereignet sich einfach. Plötzlich ist es da: ein Hörbuch, bei dem einfach alles stimmt - der unverwechselbare Ton, der bis zum Schluss eine meisterliche Balance zwischen abgrundtiefer Tragik und völligem Entsetzen hält, eine Motivführung, die Steigerungen und Wendepunkte erlaubt, ohne an einer Stelle beliebig zu werden. Die Hörfassung der »Fragmente« ist ein lässig hingerotztes Gesellenstück, das in 18 Studio-Stunden eingesprochen wurde. Dennis Rohling spielt seit mehr als 10 Jahren in unregelmäßigen Abständen Theater und hat so seine Leidenschaft für darstellende Kunst entdeckt. Er bekennt sich zu einem Theater, das die Wirklichkeit aufs Spiel setzt und mit der Wirklichkeit spielt, damit man sich ihr anpasst. Rohling hat sich nie als Theoretiker verstanden, gar nicht so selten bezeichnete er sich sogar als ungebildet. Koketterie ist das nicht, es beschreibt einen unverstellten Zugang zum Theater. Was auf der Bühne geschieht, muss Anstrengung hinter sich lassen, die Leichtigkeit, Eleganz und Präzision einer gern verrichteten, tadellos beherrschten Arbeit gewinnen. Die Beobachtung, von Menschen und den Verhältnissen, in denen sie leben, ist die Grundlage solcher Arbeit. Suspense und Sündenfall. Die Literatur ist in ungeahnte Sphären gestiegen, die davor dem Bereich des Sakralen vorbehalten waren. Deshalb hat sich eine Gegenrichtung entwickelt, bei der die »Fragmente« dem Serienkillergenre zuzuordnen sind. Jedoch nicht in der Pop-Variante: Hollywood-Kino ist anti-intellektualistisch, frauenfeindlich und tendenziell rassistisch. Immer noch gilt ein Menschenfresser wie Hannibal Lecter als die Höchstform des kunstsinnigen Menschen. Der Autor Stefan T. Pinternagel präsentiert dagegen ein erschütterndes Geständnis eines Serienkillers über das verlorene und wiedergefundene Ich in gleitenden Übergängen von der absurden Welterfahrung und einer Verinnerlichung zur lakonischen Reflexion und umgekehrt. Dieser Serienkiller ist der Jäger, die Menschheit ist seine Beute. Hineingeboren in eine Zeit, welche als Blutsaufjahrhundert in die Geschichte eingegangen ist, ist es nicht schwer zu verstehen, warum der Mensch eine Sau ist und was ihn wohl doch zum Menschen macht. Unzufriedenheit ist der Motor dieses Schreibens, aber es ist nicht die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen, sondern die mit der eigenen Leistung, solange sie nicht perfekt ist. Und wann ist sie das schon. Es gibt keine Gesellschaft, deren Ursprung nicht in einem Mord liegt, und keine Gesellschaft kommt ohne Rituale aus, in denen der Ursprungsmord symbolisch wiederholt wird, um damit die stets drohenden Gewaltausbrüche des mimetischen Begehrens zu bannen. Der Schauspieler Dennis Rohling versetzt sich beängstigend glaubhaft in die Gedankenwelt dieses "Helden". Er zeichnet das Psychogramm eines Menschen und bringt die Aporien des modernen Daseins zur Sprache: von Individuum und Gemeinschaft, Solidarität und Gewalt, Freiheit und Angst, Entwurzelung und Bildersucht, Weltbemächtigung und Sinnleere, Hedonismus und Einsamkeit. Dank seiner Dramaturgie apokalyptischer Entfesselung hört man diesen Text mit atemloser Spannung. Seine Stimme klingt so, als nehme er ihr Volumen zurück, um sie beweglich zu halten. Das eigentlich Faszinierende an seinen Interpretationen ist die lässige Selbstverständlichkeit seines Verhaltens. Von der Qual der Ermordeten zu erzählen, heißt, diese im Mitleid der Verschonten aufzuheben. Im Grenzraum entwickelt Rohling einen Sinn für klangliche Abschattierungen, entdeckt mit kompromissloser Sorgfalt einen Ausdrucksehrgeiz bis ins Unerhörte und dennoch eine gleich bleibende Noblesse und Eleganz. Als Betthupferl sollte man das Hörspiel jedoch nichthören, vielleicht eher über Kopfhörer bei einem Spaziergang durch eine Fußgängerzone, man wird die Welt mit ganz anderen Augen wahrnehmen. Von der Tragödie muss erzählt werden, damit man nicht an ihr verrückt wird, damit man Sinn im Sinnlosen findet, und mehr noch muss von Katastrophen erzählt werden, weil sich nichts so wunderbar für die Verbindung von Nervenkitzel, Wohligkeit, Erschauern und Propaganda eignet. Der Augenblick des eintretenden Todes ist ein Fast-Nichts. Und jenseits des Todes ist der Tod für den, der ihn zu denken versucht, ein Überhaupt-Nichts. Der Tod kann nur diesseits des Todes bedacht werden. Dann wird nicht der sich entziehende und stets nur bevorstehende Tod, sondern recht eigentlich das Leben zum Gegenstand des Denkens gemacht. Das Formlose, das der Tod ist, zwingt dem Leben Form auf. Und auf diese Weise nötigt der Tod auch dem Schreiben eine Form ab. Die Kunst der Antike hat den Menschen situiert innerhalb des Kosmos und der Natur. Die Kunst heute sieht ihn gern davon losgelöst. Ein Niedergang. "Euch schützt die Masse!" - mit diesen Worten beginnt der Bericht bei diesem Hörbuch. Durch Rohlings Stimme meldet sich die barocke Vanitas zu Wort; doch hier - und in vielen weiteren Umwandlungen des Themas - mischt sich auch der Spott einer modernen décadence ins Motiv: ein Abgrund von Gelächter als Leere des Nichts. Matthias Hagedorn Links: www.soforthoeren.de Die Hörbuch-CD "Fragmente" inklusive der 35minütigen Videodokumentation ist erhältlich über: http://www.hoerplanet.de/
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